Deutscher Suchtkongress
Bd. 1 Nr. 1 (2023): Deutscher Suchtkongress
https://doi.org/10.18416/DSK.2023.882

dg sps Symposium (S06)

Medikalisierung von Risikoverhaltensweisen oder Missing link zwischen Frühintervention und Versorgung? Zum Konzept der „Pre-Addiction“

Hauptsächlicher Artikelinhalt

Gallus Bischof (Universität zu Lübeck, Lübeck)

Abstract

Hintergrund und Fragestellung
Als Konzept zur Verbesserung der Versorgungssituation und zur früheren Erreichbarkeit von Menschen mit substanzbezogenen Störungen wurde von namhaften Vertreter:innen einer biologistisch orientierten Suchtforschung vorgeschlagen, den Suchtbegriff um das Konzept der Pre-addiction zu erweitern. In Anlehnung an somatische Konzepte wie Prä-Diabetes soll dadurch die Progression zum klinischen Bild der Abhängigkeit und den damit einhergehenden strukturellen Veränderungen des Gehirns durch geeignete Minimalinterventionen frühzeitig verhindert werden.


Methoden
Das Konzept der Pre-addiction wird vorgestellt und hinsichtlich seiner konzeptionellen und empirischen Evidenz diskutiert. Im Vordergrund stehen die praktische Nutzbarkeit vor dem Hintergrund der eingeschränkten Spezifität abhängigkeitsdisponierender Verhaltensweisen und die mit einer Kategorisierung einhergehenden Stigmatisierungsgefahr.


Ergebnisse
Das Konzept der Pre-addiction in der bislang vorgestellten Form zeichnet sich durch eine begriffliche Unbestimmtheit aus. Als Erweiterung der in DSM-5 als diagnostische Kategorien enthaltenen leichten bis moderaten Substanzgebrauchsstörungen bedürfte das Modell einer Erweiterung auf Risikoverhaltensweisen, deren Prädiktionswert hinsichtlich der Inzidenz von Abhängigkeitserkrankungen angesichts verschiedener psychosozialer Einflussfaktoren als eingeschränkt zu betrachten ist.


Diskussion und Schlussfolgerung
Ausgehend von einer aus Public Health Perspektive unbefriedigenden gesellschaftlichen Verbreitung sekundärpräventiver Maßnahmen suggeriert das Konzept eine Verbesserung der Versorgungssituation durch eine Medikalisierung von substanzbezogenen Problemen, ohne dass Modifikationen evidenzbasierter Interventionen mit kleinen und mittleren Effekten derzeit abzusehen sind. Analog zu den somatischen Modellannahmen z.B. bei „Prä-Diabetes“ besteht eine ernstzunehmende Gefahr von inflationären Diagnosen.


Offenlegung von Interessenskonflikten sowie Förderungen
Ich und die Koautorinnen und Koautoren erklären, dass während der letzten 3 Jahre keine wirtschaftlichen Vorteile oder persönlichen Verbindungen bestanden, die die Arbeit zum eingereichten Abstract beeinflusst haben könnten.

Artikel-Details

Zitationsvorschlag

Bischof, G. (2023). Medikalisierung von Risikoverhaltensweisen oder Missing link zwischen Frühintervention und Versorgung? Zum Konzept der „Pre-Addiction“ . Deutscher Suchtkongress, 1(1). https://doi.org/10.18416/DSK.2023.882