Deutscher Suchtkongress
Bd. 1 Nr. 1 (2023): Deutscher Suchtkongress
https://doi.org/10.18416/DSK.2023.880

dg sps Symposium (S06)

Rezidive und Remissionen: Zur begrifflichen Entmündigung der von Sucht Betroffenen

Hauptsächlicher Artikelinhalt

Martin Wallroth (Fachhochschule Münster University of Applied Sciences, Münster)

Abstract

Hintergrund und Fragestellung
Ausgangspunkt dieses Vortrages ist die Tatsache, dass das Feld der Suchtforschung und Suchthilfe durch einen einseitig medizinisch Krankheitsdiskurs geprägt ist, der sich bis in die Wahl der Begriffe hinein erstreckt, mit denen Suchtphänomene gefasst werden. Dieses ‚Framing‘ der Suchtthematik hat Folgen sowohl für die Suchthilfe als auch für die Drogenpolitik, die als ethisch fragwürdig einzuschätzen sind.


Methoden
Die problematische Rolle solcher begrifflicher Vorentscheidungen soll ganz exemplarisch am Fall des Begriffs der ‚Spontanremission‘ vorgeführt werden, der sich für die Anwält*innen einer Entpathologisierung des Konsums psychotroper Substanzen als trojanisches Pferd erweist.


Ergebnisse
Auch eine ‚Remission ohne formelle Hilfen‘ macht aus einem Aspekt selbstbestimmter Lebensgestaltung bereits auf begrifflicher Ebene ein Krankheitssymptom und reduziert menschliches Handeln auf ein ‚Verhalten‘ in einem Zyklus aus ‚Remissionen‘ und ‚Rezidiven‘. Eine Akzeptanz des Konsums psychotroper Substanzen als selbstverständlicher Bestandteil einer selbstbestimmten Lebensgestaltung sowie insbesondere auch eine aktionale Perspektive auf den selbstbestimmten Umgang mit selbst als problematisch eingeschätztem Konsum wird durch eine solche begriffliche Rahmung von vornherein auf ein falsches Gleis gesetzt und ist in der Folge nur mit großem Aufwand in einer die Autonomie der Betroffenen respektierenden Richtung ‚gegen den Strich‘ zu korrigieren.


Diskussion und Schlussfolgerung
Der Krankheitsdiskurs der Sucht, dessen historische Bedeutung für die Entstigmatisierung von Sucht und die Beendigung der Diskriminierung und gesellschaftlichen Marginalisierung der von Sucht Betroffenen unbestritten ist, entwickelt im Rahmen einer fatalen Dialektik Züge einer Entmündigung der Betroffenen und setzt für die Praxis der Suchthilfe falsche Signale. An die Stelle einer aktionalen Perspektive auf den selbstbestimmten Umgang mit selbst als problematisch eingeschätztem Konsum, welche formelle Hilfen in die Rolle der Beratung, Unterstützung und Begleitung verweist, tritt die reduktivistische Idee einer ‚Krankheitsbewältigung‘ unter der Anleitung von Expert*innen, die für sich die Deutungshoheit bezüglich des ‚Verhaltens‘ ihrer Adressat*innen reklamieren müssen, wenn sie begrifflich konsistent bleiben wollen. Ein ethisch angemessener Umgang mit den Adressat*innen wird so zu einer Herausforderung, die den Fachkräften ein permanentes Agieren gegen ihre eigene professionelle Rolle abverlangt.


Offenlegung von Interessenskonflikten sowie Förderungen
Ich und die Koautorinnen und Koautoren erklären, dass während der letzten 3 Jahre keine wirtschaftlichen Vorteile oder persönlichen Verbindungen bestanden, die die Arbeit zum eingereichten Abstract beeinflusst haben könnten.

Artikel-Details

Zitationsvorschlag

Wallroth, M. (2023). Rezidive und Remissionen: Zur begrifflichen Entmündigung der von Sucht Betroffenen. Deutscher Suchtkongress, 1(1). https://doi.org/10.18416/DSK.2023.880